Vision Quest wurde ins deutsche übersetzt mit Visionssuche, was definitiv zu kurz greift. Quest ist mehr als „looking for something …“, Quest beschreibt ein „yearning“, ein Sehnen, ein dringendes Wollen. In den indianischen Ursprüngen hieß Visionssuche „flehen um ein neues Gesicht“!
In unserer Zeit äußert sich dieser innere Ruf weniger als tiefes Sehnen der Seele, als vielmehr in der Form eines „Problems“: dies funktioniert nicht mehr, das stört, hier weiß ich nicht weiter, dort ist mein Leben schal und unbefriedigend geworden oder so ähnlich … Unser Gehirn hat nämlich eine negative Verzerrung eingebaut – und das geht auf unsere frühen Vorfahren, die Reptilien zurück: Um die Existenz zu sichern, reagiert unser Stamm- oder Reptiliengehirn nach wie vor mit Flucht/Kampf/Erstarrung, wenn Gefahr droht, was voraussetzt, dass wir die Gefahr wittern, was wiederum voraussetzt, dass wir Antennen ausgefahren haben besonders für das Negative! Es bedarf einer psychisch-geistigen Anstrengung, den Horizont so zu weiten, dass wir uns fragen, was denn unter oder hinter diesen problematischen und unangenehmen Alltagserfahrungen liegt. Glücklicherweise haben wir als Menschen genau diese Fähigkeit innezuhalten (statt sofort mit instinktiver Kampf/Flucht/Erstarrungsreaktion als scheinbarer Problemlösung zu reagieren) und nach innen zu schauen, zu hören und zu spüren, worum es sich bei dieser Befindlichkeit eigentlich handelt.
Im Medizinrad der 4 Schilde befinden wir uns mit diesen Fragen im Westschild – dem Schild der Psyche, der Seele und der Innenschau: Jede Vision Quest ist immer auch ein Abstieg in dieses Westschild mit den Fragen: woran liegt es dass ich mich nicht (mehr) erfüllt fühle? Wonach hungert meine Seele? An welcher Schwelle/welchem Übergang befinde ich mich gerade in meinem Leben? Was gilt es vielleicht hinter mir zu lassen für den Schritt in eine neue Phase? Was ist hinderlich geworden? Welches neue Gesicht ist im Werden? Und manchmal gibt es da draussen auch etwas zu bestätigen oder/und zu feiern, wo ich angelangt bin im Leben – auch das ist eine wichtige Gegenbewegung zur negativen Verzerrung: Das Erfreuliche nicht einfach übergehen, sondern ihm Raum geben, es würdigen und – z.B. durch eine Visionssuche – rituell bestätigen.
Die Seele sehnt sich nach Sinn, Bedeutung, Stimmigkeit, Kongruenz, Erfüllung … Vielleicht fühlten wir uns erfüllt vor einiger Zeit, und jetzt nicht mehr. Gerade in unserer Gesellschaft können mehrere solche Wellen auftauchen des Findens, Verlierens, Neusuchens, Neufindens, ein Leben lang … In diesem Sinne ist eine Vision Quest auch eine Soul Quest! In der Phase des Verlierens fühlen wir dann manchmal hauptsächlich dieses „Negative“, das Verloren sein, das alte Gesicht passt nicht mehr, es reibt sich. Oft führt uns das in eine Visionssuche, und das ist ein guter Ausgangspunkt – die Heldin/der Held hat sich auf den Weg gemacht, es genauer wissen zu wollen, tiefer zu gehen, sich auf ein Abenteuer, eine Held*innenreise einzulassen. Der Mut kommt meist aus dem Schmerz und aus dem Sehnen …
Und: Eine Visionssuche stellt für jede*n Quester dieses jahrtausendealte Ritual und Wissen bereit, in das sie/er sich begibt und darauf vertrauen kann, dass diese Struktur hält und es möglich macht, diesen so drängenden Übergang zu finden. Dort finden wir eine intensive Vorbereitung zuhause; Vorbereitungstage in der Gemeinschaft der Quester in den Bergen; gut vorbereitet geht es dann mehrere Tage und Nächte lang hinaus in die Natur – alleine und ohne die zivilisatorischen Abkapselungen und Gewohnheiten; zurück in der kleinen Gemeinschaft in den Bergen wird integriert und ein erstes Einordnen und Inkorporieren findet statt; zu Hause kommt dann der nächste Schritt des ins Leben bringens der „Vision“: Denn eine „Vision ohne Umsetzung ist eine Halluzination“ wusste schon Albert Einstein. Tatsächlich ist das der wichtigste Schritt …
Wir in der Shambhala Wilderness Schule bieten diesen Sommer noch mehrere Visionsuchen an:
– speziell für Jugendliche
– speziell für Frauen
– gemischt für Frauen und Männer jeden Alters
Wir stehen damit in der langen Tradition der School of Lost Borders, wo schon über mehrere Jahrzehnte hinweg an der Struktur für Visionquests für unsere Zeit gefeilt wird. Gerade heute ist dieses Ritual so wichtig – vieles scheint seelenlos geworden, unsere tiefsten Bedürfnisse finden wenig Gehör, Kriege, Gewalt, Anonymität, dünn gewordene Demokratien und um sich greifende Diktaturen lassen die Stimmen der Seelen nur noch leise erklingen … Und doch entwickeln sich da und dort Räume für menschlich-seelische Entfaltung! Unsere Visionssuchen verstehen sich als solch ein Raum – für ein nachhaltigeres Gelingen des Projekts Mensch!
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