Geschichten

Persönliche Arbeit in Zeiten kollektiver Krisen?

Sinnvoll? Bedeutend? Ethisch? Vertretbar? Notwendig?

Als die Human Potential Bewegung in den 60er Jahren die Bedeutung von persönlichem Wachstum in den Fokus rückte, war dies ein Gegenentwurf zur braven, strebsamen, an „äußerem“ Erfolg (Karriere, Familie – die Kinder sollen es besser haben, Wohlstand) orientierten Entwicklung der Nachkriegszeit mit ihrer Unterdrückung von „wilden, nicht produktiven, aufmüpfigen Tendenzen und Impulsen“. Aufstieg in vielerlei Hinsicht war für viele nach den Entbehrungen und Krisen ein Traum und schien und war häufig auch (jedoch natürlich schon damals nicht für alle) möglich.

Human Potential Movement setzte dagegen – nicht nur die Wirtschaft kann/darf wachsen und mit ihr der Wohlstand, auch wir Menschen können/sollen das: es gab/gibt die humanistischen Psychotherapien, die davon ausgehen, dass wir in ein größeres Potential hinein wachsen können; es gab/gibt Bewegungen, die darüber hinaus auch das spirituelle, transzendente Wachstum für möglich und wichtig erachten.

Parallel dazu erschienen auch diverse trans-kulturelle Veröffentlichungen, z.B. von Native Americans (Sun Bear, Swift Dear, Hyemeyohsts Storm …), die uns Weisheiten aus diesen traditionellen Kulturen übermittelten, um auch uns Menschen aus dem „Westen“ dabei zu unterstützen „ganze Menschen“ zu werden. Auch unsere beiden Lehrer*innen Meredith Little und Steven Foster und ihre „School of Lost Borders“ (vormals „Rites of Passage“) entfalteten sich u.a. aus diesen Traditionen und Entwicklungen heraus. Letztere sahen aufgrund ihrer Naturbasiertheit allerdings immer schon die Gemeinschaft aller Wesen als untrennbar verbunden mit den Einzelnen, das Politische mit dem Persönlichen … Meredith Little’s Masterarbeit in den 70ern trug den Titel: „Human Responsibility: our ability to respond to ourselves, to each other and to the earth“ …

Und auch die (nach innen orientierte) Human Potential Movement fand sich in den 60ern und 70ern immer wieder Seite an Seite auf der Straße mit der „politischeren“ (außen orientierten) Bewegung, die den Kapitalismus ebenso wie den Vietnam Krieg kritisierte und für eine bessere, gerechtere, Welt kämpfte!

In den nächsten Jahrzehnten neo-liberaler Wirtschaftsentwicklung begannen die Gesetze des Marktes jene der Politik zu dominieren statt umgekehrt, was den sozialen Zusammenhalt auf allen Ebenen untergrub und das Vertrauen zwischen Menschen, Parteien und Staaten unterminierte. Das spiegelte sich auch im Auseinanderdriften von persönlichkeitsbezogenen und gesellschaftlich-politischen Bereichen, wo es zwar teilweise noch Überschneidungen gab, die sich aber mehr und mehr in ihren jeweiligen Disziplinen spezialisierten und voneinander entfremdeten. In den Extremen war für Menschen in z.B. Umweltbewegungen Selbstentfaltung ein Fremdwort oder sogar verpönt; umgekehrt drifteten manche Selbstentfalter*innen in die esoterische Überheblichkeit, dass eh alle für ihr Schicksal verantwortlich seien und die nächste Krise (oder auch positives Denken oder höhere Mächte) schon wieder alles bereinigen werde, politisches Engagement daher nicht gefragt und nicht nötig sei.

Wie schön, dass sich seit einiger Zeit am Horizont eine Gegenbewegung abzeichnet und sich eine neue Konvergenz dieser divergierenden Bewegungen zeigt – wir sprechen heute nicht mehr nur von individuellen Traumata, sondern auch von kollektiven und über deren Verbindung; oder: das Gegenüber zu einem*r „anderen“ zu machen hat individuelle aber ebenso gemeinschaftlich/gesellschaftlich potentiell fatale Auswirkungen, wenn „anders“ in einer Verzerrung als „unverbunden getrennt“ und schließlich „potentiell feindlich“ verstanden wird … Das Individuelle und das Gesellschaftliche beginnen auf einer neuen Ebene voneinander zu lernen.

Unsere Schule verortet sich in dieser Konvergenz-Tradition stehend – ich finde den Titel der Masterarbeit von Meredith nicht nur hervorragend, sondern auch noch für heute absolut relevant! Im Persönlichen gilt es von „reactive“ zu „responsive“ zu finden – von unbewusstem reaktivem Verhalten (meist basierend u.a. auf Ängsten) zu bewusstem Verhalten, Verständnis und Empathie einschließendem Antworten! Im Gesellschaftlichen von Ausschließen/Ausgrenzen zu Einbeziehen/Befruchten. Im Politischen von Krieg zu Verhandeln und Frieden … Der Schmerz, wie weit wir davon weg sind, darf uns persönlich, gesellschaftlich wie politisch weiten und aktivieren!

Diese verbindende, umfassende Haltung strahlt auch in unsere Arbeit und in unsere Angebote. Wir setzen uns ein für Verständigung und Heilung – in uns, miteinander und mit der Erde! Insoferne machen so umfassend verstandene persönliche Arbeit in Zeiten kollektiver Krisen doch viel Sinn!
Und die Zeit drängt, sehr …

Im kommenden Jahr 2024 wird das Seminar von Meredith in der Lichtung sich ebenfalls genau diesem Thema von individueller Entwicklung und Bewegung in einer sich rasant verändernden Zeit und Gesellschaft widmen: Moving with the changing times!

What if we approached collective healing
by collectively tending to our shared unmet needs?
What if we did this in a unified fashion?
Hand in Hand, seeing, recognizing, addressing
Our collective unmet needs?
Can you image the outcome?

Caverly Morgan: the HEART of Who We Are, realizing freedom together

Claudia R. Pichl war 15 Jahre in umweltökonomischer Forschung und ist seit 25 Jahren im Bereich persönlicher Entfaltung tätig.

Foto © kalyanayahaluwo, Pixabay

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