Geschichten

Jetzt hört doch zu!

Ich bin in Tagen wie diesen sehr betroffen und besorgt. Nicht so sehr wegen der steigenden Infektionszahlen die uns ein hartnäckiger Virus beschert, den wir durch unseren ständigen Raubbau an der Natur und dadurch immer kleiner werdenden Lebensräumen selbst wachgerufen haben, das auch. Was mich ernsthaft besorgt ist, dass wir als Gesellschaft aufgehört haben mit einander zu reden und vor allem einander zuzuhören.

Der liebenswert fassungslose wiener Ausspruch „I glaub i bin im foischn Füm“ trifft meine Stimmung gut und tatsächlich fühle ich mich oft wie in einem schlechten Film. Gut gegen Böse, schwarz, weiss, dafür oder dagegen und wie in den seichtesten Blockbustern steht ausser Frage, was das Gute, das Richtige ist, wofür wir zu sein haben.

Die Natur und damit die Natur von uns Menschen ist nicht schwarz, weiss. Sie ist in ständiger Wandlung, voll von Übergängen, Veränderungen, Schattierungen und Grauzonen und in allem gibt es mehr als die eine Wahrheit. Was wäre die Wahrheit des Herbsts? Seine golden und rot leuchtenden Blätter? Das herabfallende und vermodernde Laub am kalten Erdboden? Die ersten kühlen Winde, die ihn mit ihrem Duft im Spätsommer ankündigen? Oder die letztlich kahlen, nackten Bäume über rauhreifen Wiesen? Alles ist der Herbst und das alles sind seine Wahrheiten.

Wie viele Wahrheiten, wie viele Schattierungen tragen wir in uns? Und wer sind wir, wenn wir auf eine einzige reduziert werden? Dafür oder dagegen? Die Wissenschaft kann hervorragende Antworten auf sehr spezifische Fragen geben. Das ist ihr Kerngebiet, da ist sie in ihrem Element. Außerhalb dessen taugt sie aber wenig.

Wo bleiben in diesen Tagen die artikulierten Stimmen der menschlichen Psyche und ihrer vielfältigen Wahrheiten – der Zweifel, der Verzweiflung, der Ängste, der Wut, der Trauer, der Hoffnung, der Zuversicht, des Vertrauens? Nur „nein“ sagen und „ja“ sagen hilft uns nicht weiter und hat als Wahrheit wenig Substanz.

Ich muss sehr oft an den Satz der weisen Meredith Little denken, der ihre Grundhaltung dem Leben gegenüber so treffend auf den Punkt bringt und der mir zu einem Leitfaden geworden ist: „who am I to judge?“ Das ist der einzig menschenwürdige Schluss der zu ziehen ist, wenn ich anerkenne, dass meine Wahrheit nur eine von Millionen ist, die auf dieser Erde leben.

Lasst uns doch von unseren scheinbar einzigen Wahrheiten einen Schritt zurücktreten und auf andere Wahrheiten zugehen. Wir alle haben unsere guten Gründe, manche mögen besser argumentiert sein als andere aber keiner ist per se wichtiger als sonst einer. Reden wir wieder miteinander, von Herz zu Herz, mit Achtung und Mitgefühl.

Und bitte, hört zu!

Foto © Thirawatana Phaisalratana, iStock

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