Wenn ich nachlese, was es bedeutet als Mensch ein soziales Wesen zu sein, werde ich schnell mit Aristoteles konfrontiert, der meinte, es gehöre zur Natur des Menschen, in Gemeinschaft mit Wesen gleicher Art zu leben, und anders sei er nicht fähig zu existieren[1].
„In der Umgangssprache bedeutet ‚sozial‘ den Bezug einer Person auf eine oder mehrere andere Personen; dies impliziert die Fähigkeit (zumeist) einer Person, sich für andere zu interessieren und sich einzufühlen …” sagt Wikipedia. In der Psychologie, meint es weiter, hätte es die Bedeutung “als Synonym zu den Begriffen zwischenmenschlich oder intersubjektiv“.[2]
Mir fällt auf, dass von Gemeinschaft und Einfühlsamkeit gesprochen wird. Mir fällt aber auch auf, dass es um „Wesen gleicher Art“ und um „den Bezug einer Person auf … andere Personen“ geht. Es geht offenbar ausschließlich um den Bezug, also die Beziehung von Mensch zu Mensch. Das rührt einerseits in alten Wunden, gibt mir andererseits aber auch Mut und Hoffnung.
Die Wunden sind noch älter als der griechische Universalgelehrte und sie rühren von der schrittweisen und immer vollständigeren Loslösung des Menschen von der ihn umgebenden Natur. Beginnend vielleicht mit unserer Sesshaftwerdung, der Entstehung von Besitz und des Patriarchats vor ca. 12.000 Jahren, begannen wir Menschen uns immer mehr auf uns selbst zu beziehen. Waren wir als Naturvölker noch eng mit dem uns umgebenden Leben verbunden, symbiotisch und begriffen und als Teil eines Ganzen, fand diese Entwicklung vor 5.000 Jahren mit der Erfindung der Schrift einen ersten Höhepunkt.
Von nun an lauschten wir den Geschichten nicht mehr im Kreis sitzend, umgeben von anderen Lebewesen, Geräuschen, Düften und Aussichten, mit kollektiver Gänsehaut oder Schrecken oder Gelächter, wie sie nur an genau diesem Ort, zu dieser Zeit von genau dieser Erzählerin oder diesem Erzähler erzählt werden konnten. Wir begannen in abstrakte, menschengemachte Zeichen zu starren, in alte und neue, austauschbare Geschichten an beliebigen Orten zu jeder beliebigen Tageszeit und meist alleine. Die beinahe einzige Referenz waren von nun an wir selbst.
Warum ich dann Hoffnung habe? Weil es zwar eine oft wiederholte aber eben doch nur eine Erzählung ist, dass wir nicht Teil der Natur oder etwas anderes als alle anderen Lebewesen wären. Steven Foster[3] hat das sogar als “die große Lüge” bezeichnet. Und tatsächlich bestätigt heute auch die moderne Neurowissenschaft, dass wir Menschen uns im Kern nicht von allem anderen Leben unterscheiden. Dass wir Teil eines Netzwerks aus unfassbar vielen, unglaublich unterschiedlichen Sinnesorganen sind, die auf einander reagieren und miteinander interagieren. Darin sind wir weder Dirigent noch Zuschauer, wir sind Teilnehmer:innen.
Und ich habe Hoffnung, weil es letztlich um die Frage geht: worauf beziehe ich mich? Und weil es eine Entscheidung ist, womit und mit wem ich in Beziehung gehe. Ich kann in meinem Smartphone oder einem Buch lesen oder in die Natur gehen um in ihr zu lesen, zu lauschen, zu riechen und zu schmecken, letztlich um heimzukehren zu der Familie all der anderen Lauschenden, Lesenden, Riechenden und Schmeckenden – der Lebenden.
Eine wunderbare Möglichkeit dazu sind bewusste Naturgänge oder auch die Schwellenzeiten, wie sie in unserer Schule angeboten werden.
[1] Der Mensch Als Soziales Wesen, Zusammenfassung; https://link.springer.com/chapter/10.1007/978-3-642-93611-1_1
[2] Wikipedia, Sozial; https://de.wikipedia.org/wiki/Sozial
[3] Steven Foster, Begründer der School Of Lost Borders
Fotos: © Wolfgang Loibl